Martin. Eine kleine Elegie über Arbeit.
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Eingeladen wurde er von einer quietschenden Telefonstimme vor genau sieben Tagen. Einer Frau, die bisher nur auf Bauernhöfen Zeit totschlug und gackernden Hühnern nacheiferte, so schien es ihm jedenfalls.
Frau Lein. Die unerwartet freundliche Sekretärin öffnet ihm die Tür, dann schleicht Martin herein. Er ist jung und hungrig aufs Leben, während der alte Professor vor einem Berg Mechanik sitzt. Er ist schwer beschäftigt und brütet nach einer Lösung. Martin kommt näher und räuspert sich höflich. Das Zimmer ist prächtig eingerichtet und einladend muffig. Jetzt erkennt er das Gerät auf dem Schreibtisch: eine Kaffeemaschine ohne Verdeck, für echten FKK-Kaffee. Aber der Professor, dessen Name ihm nicht einfällt, findet keinen Knopf, um sie einzuschalten. Und Martin hat er auch noch nicht bemerkt. Der Professor fährt sich durch die weiße Mähne und greift zum Telefon: „Ja, hallo? Frau Lein? Ja, bitte kommen Sie schnell. Ich brauche Sie hier.“
Der Professor hat den Hörer noch in der Hand, da springt die Tür auf und Frau Lein marschiert herein. Martin und der Alte schrecken auf. Sie starren auf eine Frau, die sich mit zackigem Stechschritt dem Schreibtisch nähert. „Jawohl?“ fragt sie militärisch. Der Professor druckst herum und fiepst dann kleinlaut: „Ja, ähm, Frau Lein, vielleicht könnten Sie mir hier eventuell weiterhelfen. Ich, ich…“. Sofort fummelt Frau Lein am Automaten rum, der zischt kurz, dann verkündet er mit einem lauten Kling Betriebsbereitschaft. Martin ist von der schnellen Auffassungsgabe dieses Klasseweibs beeindruckt, doch schon krächzt sie: „Bis gleich, Herr Professor!“ und verlässt scharf den Raum.
Der Professor lässt sich in seinen Sitz plumpsen und staunt Bauklötzer, wie rasch Frau Lein eben diese Maschine in Gang brachte. Martin räuspert sich noch einmal höflich. „Ach ja, der junge Mann, natürlich, natürlich. Kommen Sie näher! Mein Name ist Professor.“ Der Professor schiebt den Automaten nach rechts zur Tischkante. Das schrille Quieken, das dabei ertönt, erinnert an ängstliche Ferkel auf dem Schafott. Der Professor sieht auf Martin und Martin auf die tiefe Furche im Schreibtisch, die die Maschine im Holz hinterließ. „Bleiben Sie ruhig stehen, wenn Sie möchten.“ Der Professor kichert. Er kuckt sich nervös im Zimmer um. „Sitzen geht natürlich auch. Bitte! Nehmen Sie Platz!“
Martin schaut auf den Stuhl vor ihm. Ein hässliches Exemplar. Grau, filzig, irgendwie in Rente. Martin zögert, doch kaum schmiegen sich die Bäckchen rein, ist er beeindruckt. Das Ding ist gemütlich, hat samtig gepolsterte Armlehnen, Martin fühlt sich bärenwohl. Der Professor unterbricht Martins kleinen Polsterurlaub: „Also, ähem, wenn es Ihnen nichts ausmacht, junger Mann, dann stehen Sie doch lieber. Hier zum Beispiel!“ Er zeigt in eine Ecke des Raumes, in die kaum Licht fällt. „Oder nein, lieber da!“ Er fingert auf einen Vorhang. Martin steht langsam auf: „Also, wenn Sie darauf bestehen, Herr Professor, natürlich gerne.“ Martin stellt sich vor den Vorhang. Der Professor frickelt an seiner runden Brille herum. „Ähem, nein, also, ich, äh, meinte dahinter.“ Martin drückt den langen Schal nach vorn. Der ist schwerer als er dachte. Und verstaubter. „Hierher?“ Martin verschwindet hinter dem Vorhang. Er hört ein Geräusch, aber Martin versteht nichts durch den dichten Stoff und schiebt den Kopf vorbei zu dem wunderlichen kleinen Männchen.
„Wie bitte, Herr Professor?“
„Ich sagte: Macht es Ihnen auch wirklich nichts aus, junger Freund?“
„Nö, nö. Es geht schon. Aber warum muss ich eigentlich hier stehen, Herr Professor?“
„Sie müssen doch gar nicht!
„Sondern?“ blafft Martin schroff zurück und schämt sich sofort dafür.
„Ich wollte nur sehen, wie gefügig Sie sind.“
„Gefügig?“ fragt Martin verunsichert.
„Ja! Wie Sie sich gegenüber einem hilflosen Tattergreis benehmen.“
„Aber ich…“
„Sie haben bestanden, Glückwunsch!“
„Kann ich…“
„Ja, Sie können da wieder rauskommen.“
„Danke.“
Martin befreit sich zügig. Und kaum sitzt er wieder auf dem bequemen Stuhl, klammert er sich an die gütigen Polster.
„Aber warum?“ Martin ist verwirrt. „Ist es wegen meiner Scheu vor Neuem? Meine Mutter sagt auch oft, dass …“
„Keine Sorge, ich meine nicht Sie im Speziellen, nur im Allgemeinen.“
„Wie jetzt?“
„Wie wie?“ erwidert der Professor.
„Ich verstehe Sie nicht.“
„Wie jetzt?“
„Na, was Sie gesagt haben.“
„Meinen Sie mich im Allgemeinen oder ganz speziell was ich gerade sagte?“ fragt der Professor.
„Ähm, das Spezielle.“
„Junger Freund, seien Sie doch nicht so kleinlich. Sie müssen in großen Dimensionen denken.“
„Ja, aber…“
„Sie sind doch hier nicht irgendwo, Sie sind beim Geheimdienst!“
„Ich weiß, es ist doch nur, weil…“
„Ach, papperlapapp! Jetzt holen Sie erstmal Ihre Uniform, beziehen die Stube und dann sehen wir uns Punkt kurz nach Sieben wieder hier!“
„Jawohl, Herr Professor!“ antwortet Martin untergebener als ihm lieb ist.
„Und, bitte, junger Freund, nennen Sie mich nie wieder Herr Professor. Ich hasse das.“
Martin denkt sich, und er verabscheue es, ‚junger Freund’ genannt zu werden. Damit ist das Gespräch beendet und Frau Lein, die anscheinend lautlos das Zimmer betrat, steht plötzlich neben ihm. Sie nimmt Martins Hand und führt ihn mütterlich hinaus. Nachdem sie die Tür hinter ihnen schließt, zischt sie ihm zu: „Das war auch ein Test. Sein Deckname ist Herr Professor. Sein richtiger Name ist Horst Professor. Professor Horst Professor. Der Titel wurde ihm vor zwei Jahren vom MIT verliehen. Von mir haben Sie diese Informationen nicht, klar?“ Damit biegt Frau Lein in einen der vielen Gänge und lässt Martin stehen.
Oje, was hatte sich seine Mutter nur dabei gedacht, ihm diesen Berufswunsch einzureden? Doch darüber zu jammern, hilft jetzt auch nicht weiter. Er muss seine Stube und diesen Uniformenraum finden. Endlich kommt eine kleine runde Frau auf ihn zu.
„Entschuldigung“, spricht Martin sie an, „können Sie mir sagen, wo hier die Uniformen ausgegeben werden?“
Frau Dickmadame setzt eine ernste Miene auf und zieht mit dem Finger einen unsichtbaren Reißverschluss zwischen ihren Lippen zu. Sie geht weiter.
Martin rennt die hellen Flure entlang, doch nirgends ist jemand zu sehen. Nicht mal eine Tür. Schließlich sieht er doch eine, klatscht auf die Klinke und landet er in einem riesigen weißen Saal. Alles ist blitzblank gewienert, er ist voller weißer Bänke und weißer Tische. Scheint eine Art Kantine zu sein. Überall sitzen Männer und Frauen in weißen Kitteln. Es sieht aus wie ein Symposium aller Doktoren der Stadt. Er fragt den erstbesten Mann: „Tschuldigung, wo finde ich hier den Raum mit den Uniformen?“ Der hagere Mann nimmt ihn zur Seite: „Junger Mann“, beginnt er, während sich Martin zusammenreißen muss, sich nicht mit richtigem Namen vorzustellen, „sind Sie der Neue?“
„Woher wissen Sie das?“ Martin fühlt sich mittlerweile sehr unwohl in diesem Gebäude.
„Weil Sie nach Uniformen gefragt haben“, antwortet der andere freundlich.
„Blödsinn!“ platzt es aus einem stark verunsicherten Martin heraus, „Ich hatte nach dem Raum für Uniformen gefragt!“
„Junger Freund, nun seien Sie doch nicht so kleinlich. Wissen Sie denn nicht, wo Sie hier sind?“
„Natürlich“, gibt Martin stolz hervor, „beim Geheimdienst! Und hier denkt man in größeren Dimensionen, ich weiß. Aber das muss ich wohl noch lernen.“
„Sehr gut! Sie haben eine gute Auffassungsgabe! Sie scheinen klüger zu sein als wir dachten.“
„Wer sind wir? Und was meinen Sie mit klüger? Ich hatte einen Abschluss von einskommaeins!“ Martin weint fast.
„Nun“, setzt der Mann mit einer sanften Stimme an, „nicht alle Neuen fragen im ganzen Haus nach den Uniformen.“
„Nach dem Raum mit den Uniformen!“ verbessert Martin.
„Einige erkennen recht schnell, dass hier niemand Uniform trägt. Wir sind schließlich beim Geheimdienst, nicht in einer Kaserne. Und Sie, junger Freund, haben das wohl nicht bemerkt.“
Martin fühlt sich ertappt: „Na gut, vielleicht haben Sie Recht. Ich war etwas durcheinander! Aber Sie sagten trotzdem, ich hätte eine sehr gute Auffassungsgabe.“
„Nicht ganz. Ich sagte eine gute.“ Martin will ihn gerade auf Kleinlichkeiten und große Dimensionen hinweisen, da fährt der Mann schon fort: „Ich meinte Ihre Erkenntnis, dass man hier nicht kleckert, sondern klotzt. Die Dimensionen, junger Freund, die Dimensionen!“
„Und was heißt das jetzt für mich?“
„Dass Sie erstmal Ihre Stube beziehen. Alles Weitere erfahren Sie um Punkt kurz nach Sieben vom Professor.“
Martin wittert schon wieder eine Finte, allein die Uhrzeit kommt ihm spanisch vor. Aber er hält den Mund. Er ist jetzt beim Geheimdienst.
Am nächsten Morgen fühlt sich Martin längst als Teil der Elite. Erst besteht sein Frühstück aus echter Astronautennahrung – Mondpillen, Steaks aus der Tube und Multivitaminsaft, für Martin alles Neuland – und dann darf er sogar den Fahrstuhl benutzen. Aber nur runter. Zurück muss er die Treppen nehmen. So lange ist er nun auch noch nicht dabei.
Der gestrige Abend verlief ruhig, das Gespräch um Punkt kurz nach Sieben wurde auf exakt gegen halb Neun verschoben. Leider entfiel dem Professor, sich daran zu erinnern, den neuen Termin nicht zu vergessen. Und so saß Martin eine geschlagene Stunde in dem überraschend bequemen Stuhl und massierte die weichen Armlehnen. Scheint der einzige mit Polstern drauf zu sein. Einen zweiten hat Martin im ganzen Haus noch nicht entdeckt.
Danach mummelte sich Martin unter seine Bettdecke und träumte von Mutti. Er erinnerte sich plötzlich genau an ihre Worte beim Abschied: „Sei immer schön fleißig, Junge, dann wird bald so ein prächtiger Kerl aus dir wie dein Vater einer war. Wenn nicht, bist du nicht mehr mein Sohn!“ Ein bitteres Echo dieser Silben hallte noch lange nach, dann schlief Martin traumlos ein.
Punkt kurz vor Zehn ist Lagebesprechung. Martins erste. Erfahren hat er das über die Hauspost, die alle Anweisungen unter den Türschlitzen der Stuben durchschiebt. Wer das tut, weiß niemand. Auch Martin sieht den Zettel in sein Zimmer rutschen, da springt er zur Tür und reißt sie auf. Vergebens. Keiner auf dem Flur. Auf dem Zettel steht nur:
LAGEBESPRECHUNG. RAUM 000. PUNKT KURZ VOR ZEHN. SEIEN SIE PÜNKTLICH!
Diesen Raum kennt Martin gut. Er ist gleich nebenan. Und praktischerweise auch der einzige andere Raum auf diesem Flur. Als er ihn betritt, ist er der erste. Er setzt sich in die dritte Reihe, zweiter Platz. Schon nach wenigen Sekunden schmerzt der Hintern. Dieser Plastehocker ist nicht nur potthässlich, sondern auch unbequem. Und trotzdem sieht er genauso aus wie der aus dem Zimmer des Professors. Sehr merkwürdig, denkt sich Martin. Dann öffnet sich die Tür und ein kräftiger Kerl mit breitem Kreuz dampfert sich schnaufend an das Pult, das nur auf diesen Preisboxer gewartet hat.
„Guten Morgen. Mein Name ist Geheim“, stellt er sich vor, „danke, dass Sie alle pünktlich und vollständig erschienen sind.“
Martin wendet den Kopf. Er will sich vergewissern, ob sonst noch jemand rein gekommen ist. Durch eine unsichtbare Hintertür vielleicht. Aber da ist keine Menschenseele.
„Umdrehen! Wie heißen Sie junger Freund?“ poltert Herr Geheim.
„Mein Name ist Martin P…“
„Danke“, unterbricht er ihn, “ich weiß, wer Sie sind. Wollte nur sichergehen, dass Sie es auch wissen. Man kann nie vorsichtig genug sein. Wir sind hier beim Geheimdienst. Da sollte sich jeder darüber im Klaren sein, wer er ist und wer nicht. Aber denken Sie immer daran: Ihr richtiger Name ist vertraulich. Er darf diesen Raum nicht verlassen. Das gilt auch für alle Decknamen.“
„Natürlich“, antwortet Martin pflichtbewusst.
„Punkt eins: Sie erhalten hiermit Ihren ersten Auftrag. Die Details übermittelt Ihnen die Hauspost. Punkt zwei: Wenn Sie jemand fragt, von wem Sie Ihre Aufträge bekommen, verraten Sie niemals, dass sie von mir sind. Antworten Sie immer nur ‚geheim’. Haben Sie das verstanden?“
„Jawohl!“
„Dann ab auf Ihre Stube! Alle anderen bleiben noch hier.“
Martin steht unsicher auf und geht übertrieben langsam zur Tür, dabei sucht er mit schnellen Blicken das Zimmer nach Personen ab. Außer ihm und Herrn Geheim hockt hier kein Schwein.
„Wird’s bald, junger Freund!“
Martin legt zu und verlässt den Raum. Auch auf dem Gang ist er allein. Martin betritt seine Stube, bleibt aber hinter der Tür stehen und wartet. Plötzlich flitscht eine Meldung ins Zimmer, im selben Moment reißt er die Tür auf und kuckt sich um. Keiner zu sehen. Er hört nur leise Schritte, die sich schnell entfernen. Immerhin! „Nächstes Mal erwisch’ ich dich“, macht Martin sich Mut. Er kehrt in seine trostlose Stube ein – außer einem Feldbett, Waschbecken, Schreibtisch und einem Schrank, der sich nicht öffnen lässt, ist das Zimmer leer. Nicht mal einen Stuhl stellt man ihm zur Verfügung. Martin setzt sich aufs Bett und liest die Hauspost:
GLÜCKWÜNSCH: IHR ERSTER AUFTRAG!
AUFGABE: FINDEN SIE SO VIEL WIE MÖGLICH ÜBER DIE FOLGENDE ZIELPERSON HERAUS. SCHREIBEN SIE TÄGLICH EINEN BERICHT ÜBER ALLES, WAS SIE TUT, WAS SIE SAGT, WEN SIE TRIFFT, EINFACH ALLES. FALTEN SIE DEN BERICHT IN DER MITTE UND SCHIEBEN SIE IHN UNTER IHRER TÜR DURCH.
Martin ist gespannt. Endlich geht’s los! Doch plötzlich ahnt er, dass sein erster Auftrag vielleicht doch nicht so spannend wird. Die Zielperson ist er selbst.
„Dann wollen wir mal!“ verdrängt Martin seine Sorgen und macht sich an den Stapel weißer Blätter auf dem Schreibtisch und schnappt sich den Stift, der verhindert, dass alle Seiten davonfliegen. Sorgfältig schreibt er alles auf, was seine Zielperson heute getan hat. Vom Aufstehen, den gründlichen Waschungen, selbst unter den Achseln, vom Bettmachen, dem Anziehen, dem Astronautenfrühstück, der begeisternden Fahrstuhlfahrt und der Lagebesprechung. Doch hier zögert Martin. Was soll er jetzt schreiben, immerhin waren die Informationen vertraulich? Er beschließt, einfach bei der Wahrheit zu bleiben und schreibt penibel auf, was gesagt wurde und wer anwesend war: insgesamt zwei Personen – eine, die Zielperson, die andere, geheim.
Nach 30 Minuten ist er fertig und schiebt den Bericht ganz nach Vorschrift unter der Tür durch. Er lehnt sich mit dem Ohr dagegen und hört, wie jemand den Zettel aufhebt und gemächlich davon geht. Er reißt die Tür auf – wieder nichts! Nur entfernte Schritte, die schnell davonrennen. Martin legt sich ins Bett und schläft glücklich ein. Sein erster Auftrag! Wenn das seine Mutter wüsste!
Am nächsten Morgen wacht er mit heftigen Bauchschmerzen auf. Natürlich! Er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen. Vor lauter Freude muss er gestern vergessen haben, einen Abstecher in die Kantine zu machen. Das passiert ihm heute nicht noch einmal.
Sein Tag gleicht dem Vergangenen bis ins Detail. Nur findet heute keine Lagebesprechung statt. Er sitzt den ganzen Tag auf seinem Bett und wartet, bis was passiert oder der Magen knurrt und er essen gehen kann. Nach dem Abendbrot schreibt er wieder seinen Bericht und schiebt ihn unter Tür durch. Er hört wieder gemächliche Schritte, lässt die Türe aber zu. Nicht schon wieder, denkt er, heute ist alles viel zu schön. Als vorbildlicher Geheimdienstler schläft er glücklich ein. Wenn auch nicht mehr ganz so fröhlich wie gestern.
Den nächsten Morgen begrüßt ihn eine Mitteilung auf dem Boden. Er solle schnell zum Professor kommen. Martin gehorcht. Und ein wenig hofft er auch, der Professor möge ihn nicht mehr ‚junger Freund’ nennen.
„Hallo junger Freund!“ trällert es ihm schon entgegen, bevor er auf dem Stuhl der Stühle Platz nehmen kann.
„Guten Morgen“, antwortet Martin wenig begeistert.
„Wie ich hörte, erfüllen Sie Ihren Auftrag mit Bravour. Ich bin beeindruckt.“
Martin macht es sich bequem und umklammert wieder die Armpolster ehe er sie liebevoll durchknetet.
Der Professor fährt fort: „Ich möchte Ihnen etwas anvertrauen.“
Martin lehnt sich vor, um die Distanz zu verkürzen, die Polster jedoch hält er fest wie ein ganzer Kerl: „Ja, Herr Professor?“
Der alte Zausel holt ein Blatt Papier aus seinem Schreibtisch und hält es vor sich: „Das Gremium ist sehr zufrieden mit Ihren Leistungen.“ Der Professor nickt dabei leicht mit dem Kopf.
Martin rückt jetzt mit dem Stuhl noch näher Richtung Professor und stößt sich schon die Knie am Schreibtisch: „Vielen Dank, Herr Professor.“ Eine Frage nach diesem Gremium scheint ihm unpassend, vielleicht später.
„Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass ich diesen Namen hasse!“ gibt der alte Mann mürrisch zu verstehen.
„Verzeihung. Wie soll ich Sie denn anreden?“
„Benutzen Sie meinem Decknamen. Frau Lein sollte Ihnen den Namen bereits genannt haben.“
„Ja, das ist richtig, aber…“
„Sehr schön. Hören Sie zu: Sie bekommen von mir einen neuen Auftrag. Aber Ihr Alter ist damit nicht aufgehoben. Also passen Sie gut auf.“
Martin passt sogar so gut auf, dass ihm die Knie schmerzen.
„Weisen Sie bitte alle Angestellten hier im Gebäude an, mich nie wieder mit ‚Professor’ anzusprechen. Ich wünsche, dass man meinen Decknamen verwendet. Wozu haben wir die schließlich? Leider kann ich das nicht persönlich tun. Es gibt hier so eine dumme Regel: Keine Information darf diesen Raum verlassen. Außerdem, bei so vielen Angestellten bräuchte ich ja ewig.“
„Darf ich fragen, wer hier die Regeln macht?“
„Selbstverständlich dürfen Sie. Fragen Sie!“
Martin fragt noch einmal: „Gut. Wer stellt hier die Regeln auf?“
„Immer der Vorgesetzte, junger Freund.“
„Und wer ist mein Vorgesetzter?“
„Das bin ich.“
„Ich verstehe.“
„Haben Sie auch Ihren Auftrag verstanden?“
„Jawohl, Herr Professor!“ rutscht es Martin unvorsichtigerweise raus und verbessert sich sofort zu: „Natürlich!“
„Sehr fein, junger Mann“, der Professor lehnt sich zufrieden in seinen Stuhl, der, so scheint es Martin, noch besser als seiner gepolstert ist.
„Doch vergessen Sie bitte eins nicht, junger Mann.“
Martin horcht genau hin, selbst ein Niesen von Frau Lein im Vorzimmer hört er deutlich.
„Was ich Ihnen gerade gesagt habe, unterliegt oberster Geheimhaltungsstufe. Nichts davon darf diesen Raum verlassen.“
„In Ordnung!“
Martin wartet. Er hofft verzweifelt, dass etwas mehr kommt, ein Schlupfloch vielleicht, oder irgendeine andere Möglichkeit, seinen neuen Auftrag zu erfüllen.
„Junger Mann, Sie kennen die Konsequenzen, falls Sie dem nicht Folge leisten?“
Martin schüttelt den Kopf.
„Nun, ich müsste Ihre Familie öffentlich demütigen.“
Martin erschrickt.
„Ich müsste behaupten, dass bei deutschen Geheimdiensten den ganzen Tag nur unanständige Dinge, ja, unaussprechliche Dinge getan werden. Sie wissen, was ich meine?“ Der Professor grinst schelmisch.
Martin fällt nichts ein. Er überlegt, was das wohl für Dinge sein mochten.
„Und vergessen Sie nicht, junger Mann, ich bin lange genug im Geschäft. Bei meiner Erfahrung können Sie nicht am Erfolg meiner Methoden zweifeln.“
Martin bezweifelt gar nichts.
„Andernfalls müssen Sie mit ernsten Konsequenzen rechnen.“
„Und welche wären das?“ wagt sich Martin vor.
„Ich müsste Ihre Familie öffentlich demütigen.“
Jetzt hat’s Martin kapiert.
„Wir nennen diese Maßnahme übrigens den ‚sachten Sprung nach vorn’, sehr passend oder? Der Name kommt von Ihrem direkten Vorgänger.“
Martin wagt kaum, daran zu denken, was seinem Vorgänger wohl Schlimmes zugestoßen sei.
„Sie wollen sicher wissen, was aus ihm geworden ist, hab ich Recht?“
„Eigentlich nicht.“
„Nun, er sitzt vor Ihnen.“
Martin fühlt sich unwohl. Ihm ist schwindelig. Er weiß nicht, was schlimmer ist: Auf dieser Seite des Tisches zu sitzen, mit den Knien tief im Holz, oder auf der anderen und dauernd fremden Menschen anzudrohen, deren Familie zu demütigen. Und zwar öffentlich!
„Haben Sie alles verstanden?“
„Jawohl!“ verabschiedet sich Martin und verlässt seinen lieb gewonnenen Lümmelonkel mit den tollen Polstern.
Martin geht schnurstracks in sein Zimmer. Er hat keinen Appetit mehr. Bis zum Abend sitzt er nur da und grübelt über seinen neuen Auftrag. Wie, um Himmels Willen, soll er das denn schaffen? Um sich abzulenken, geht er doch was essen. Schmeckt gut. Diesmal gibt’s belegte Brote. Hat irgendein Agent aus Japan mitgebracht. Soll dort momentan die total angesagte Speise sein. Na ja, Hauptsache Martin schmeckts, und das tut es.
Vorm Schlafengehen macht er sich wieder an seinen Bericht. Verdammt. Wie war das noch mal mit dem Professor? Ist sein Deckname nicht auch ‚Professor’? Martin zögert, doch eine Alternative fällt ihm auch nicht ein. Außerdem muss der Bericht raus. Martin will nicht riskieren, schon am vierten Tag unpünktlich zu werden und zu schludern. Er schreibt ‚Professor’. „Hoffentlich merkt der Professor nichts“, denkt er noch beim Durchschieben des Zettels unter der Tür, hinter der sich der Bote anscheinend schon postiert hatte und nun mit schlaffen Schritten den Flur entlang stiefelt. Das ist deine Chance, hofft Martin, der Typ ist müde, jetzt krieg ich ihn. Er reißt die Tür auf und will schon triumphierend lachen. Doch – da ist kein Mensch. Martin steht allein auf dem langen Flur und hört mal wieder nur entfernt rennende Schritte.
Der nächste Tag beginnt wie der letzte. Martin hat Post vom Professor:
GUTE ARBEIT! VIELEN DANK, DASS SIE MEINEN DECKNAMEN BENUTZT HABEN.
GLÜCKWUNSCH AUCH FÜR IHREN ZWEITEN AUFTRAG! SIE SCHEINEN EIN GROßES TALENT ZU SEIN. JEDER SPRACH MICH HEUTE MIT MEINEM DECKNAMEN AN. SIE HABEN HIER EINE GROßE ZUKUNFT VOR SICH, JUNGER FREUND.
Martin weiß nicht, ob er sich freuen soll oder lieber heulen wie eine angeschossene Hyäne. Und wenn ihn hier noch irgendwer mit‚ junger Freund’ anspricht, dann beißt er zu. Wie eine angeschossene Hyäne.
Er fühlt sich elend, zum ersten Mal in seinem Leben leidet er unter dem Druck der Arbeit. Andererseits will er den Professor nicht enttäuschen. Und seine Mutter erst! Er quält sich durch einen weiteren ereignislosen Tag, dann durch noch einen, und dann durch viele andere. Nach der zweiten Woche beginnt es: Er fühlt sich nicht mehr einsam. Warum, weiß Martin aber auch nicht. Und es ist kein angenehmes Gefühl, das bis in den letzten Winkel seines Tages wuchert. Er ist die ganze Zeit allein auf seiner Stube. Doch irgendjemand anderes ist noch hier. Martin spürt es. Abends schläft er schlechter ein, morgens wacht er erschöpft auf. Erschöpft und beobachtet. Genau, das ist es! Martin fühlt sich beobachtet. Als ob ihn jemand ausspioniert und heimlich Notizen darüber macht, was Martin tut, was er sagt, wen er trifft, einfach alles.
Martin checkt nun alle paar Stunden sein Zimmer, schaut unters Bett, öffnet alle Schubladen seines Schreibtisches und versucht vergeblich, die Schranktür aufzumachen. Der Schrank! Natürlich. Martin lässt ihn keinen Augenblick mehr aus den Augen. Solange er im Raum ist, setzt er sich immer so aufs Bett, dass er den kleinen Spalt der Schranktür gut im Blick hat. Wie viele Tage Martin hier schon arbeitet, weiß er nicht. Er zählt sie längst nicht mehr. Doch immerhin werden seine Mühen belohnt – durch das Schreiben seines allabendlichen Berichts. Hier gibt er alles, hier zeigt er was er kann – beobachten und alles aufschreiben, das hat er immer sehr gemocht. Schon im Kleinkindalter vergraulte er damit sämtliche Freunde.
Gewissenhaft notiert er jeden Quatsch, den seine Zielperson von sich gibt, mittlerweile sogar, was sie denkt! „Zielperson leidet unter Verfolgungswahn und vermutet Spion im Schrank.“ Da wird der Professor Augen machen, wenn ich sogar weiß, was im Kopf meiner Zielperson vorgeht!
Und prompt passiert es. Ein unschuldiges Blatt segelt wieder durch den Türspalt und bittet zum Professor. Martin gehorcht. Natürlich.
„Junger Freund?“ begrüßt ihn der Professor ernst, „bleiben Sie bitte dort stehen.“
„Wie Sie meinen“, antwortet Martin ungern und beobachtet sehnsüchtig den Stuhl.
„Sie wissen, warum Sie hier sind?“
„Weil ich wusste, was die Zielperson dachte?“ vermutet Martin.
„Nein. Können Sie denn Gedanken lesen?“ fragt der Professor neugierig.
„Ehrlich gesagt nein“, antwortet Martin wahrheitsgemäß.
„Junger Freund, es tut mir leid, das sagen zu müssen. Aber Sie sind hier, weil Sie verrückt sind“, sagt der Professor in dem beruhigenden Ton eines Arztes.
„Wie bitte?“ Martin hofft, dass er sich eben verhört hat.
„Sie haben einen an der Waffel, Sie ticken nicht ganz richtig, bei Ihnen im Oberstübchen ist Räumungsverkauf. Verstehen Sie, was ich meine?“
Martin nickt geknickt.
„Verlieren Sie nicht den Mut, junger Freund. Gehen Sie zu Ihrem Arzt. Wir haben keinen mehr.“
Martin fragt lieber nicht, wohin die Ärzte alle sind. Oder eingeliefert wurden.
„Aber denken Sie daran: Nichts darf diesen Raum verlassen.“
Martin murmelt ein verbittertes Ja.
„Nehmen Sie sich ein paar Stunden frei, erzählen Sie dem Arzt genau, was Sie haben. Dann sind Sie in Nullkommanichts wieder der Alte, junger Freund“, ermuntert ihn der Professor ausgelassen.
„In Ordnung.“
„Ich melde mich, wenn es Ihnen besser geht“, verkündet der Gelehrte.
Martin verlässt den Raum und löst traurig den Blick vom Stuhl. Seinem Stuhl!
Keine halbe Stunde später sitzt Martin vor seinem Hausarzt. Der verlangt von ihm ständig BÄH und OH und AH und machen Sie mal so, versuchen Sie mal das und bücken Sie sich runter. So ein Blödsinn!, denkt Martin. Er will doch nur wissen, ob er wirklich irre ist.
„Sie sind völlig gesund, junger Freund“, attestiert ihm der Mann im Kittel. Wenig überraschend ebenfalls in dem beruhigenden Ton eines Arztes. Ob der Professor vielleicht auch Mediziner ist?, fragt sich Martin bei dieser Gelegenheit.
„Außer einigen Fettgewebespuren am Allerwertesten sind Sie tiptop in Ordnung!“
Martin zieht seine Hose hoch, dann beugt er sich ganz nah ans graumelierte Arztohr und flüstert so sanft, dass sich kaum ein weißes Härchen drin bewegt: „Verfolgt mich jemand, Herr Doktor? Sind wir allein in diesem Zimmer? Ich habe nämlich das Gefühl, dass ich beobachtet werde. Eine ganze Zeit schon!“
Der Arzt lehnt sich zurück und zieht die Brauen so hoch es geht: „Junger Freund! Erzählen Sie doch keinen Quatsch! Für so was sind Sie doch noch viel zu jung!“
„Also ist hier keiner?“ geht Martin, jetzt etwas lauter, auf Nummer sicher.
„Iwo! Sie bilden sich das alles nur ein.“
„Okay, trotzdem danke“, will Martin sich schon verabschieden.
Da ruft ihm der Doktor noch hinterher: „Sie sollten mehr Sport treiben, junger Freund. Oder mal ihren Stuhl wechseln.“
„Wieso?“ fragt Martin schnoddrig. So eine unverschämte Bemerkung hat er schon ewig nicht mehr gehört.
„Wegen dem Fettgewebe.“
„Das ist ja wohl mein Problem, oder? Außerdem sitze ich sehr bequem.“
Martin geht schlecht gelaunt zurück zur Arbeit, die paar Stunden sind fast rum.
Als er gerade seinen Flur betritt, sieht er einen Kerl im Blaumann, der in Martins Tür steht.
„He! Was soll denn das? Was ist hier los?“ ruft Martin von weitem.
„Nichts ist los, Kleiner“, gibt der unrasierte Fremde zurück, „son Geheimniskrämer ausm Nachbarzimmer hat mich hergeschickt. Ich soll den Schrank rausholen, weil der Typ, der hier wohnt, nicht mehr alle beisammen hat.“ Der Mann lässt seinen Finger ein paar Runden um die rechte Schläfe drehen. Dabei kugelt er sich fast die Augen aus.
Martin ist sauer. Und irgendwie auch nicht. Warum tut Herr Geheim das hinter Martins Rücken? Vielleicht war ja wirklich ein Spion im Schrank und wird jetzt tüchtig durchgerüttelt. Martin reibt sich die Hände. Hat die Verfolgung jetzt ein Ende? Kann er endlich ruhig schlafen? Kann er sich wieder ganz seinem Auftrag widmen? Und stellt ihm endlich jemand einen Stuhl in sein Zimmer? Martin wünscht es sich auf eine so krankhafte Weise; so sehr wie Robbenjäger größere Knüppel.
Als der Fremde verschwunden ist, macht sich Martin pflichtbewusst an seinen Bericht. Auf dem Bett sitzend, schreibt er wieder genau auf, was heute alles geschah. Bis zur präzisen Wiedergabe des Arztbesuches und dem anschließenden Gespräch mit dem Hausmeister, oder was auch immer dieser Kauz sein mochte. Auf jeden Fall eine Arbeit, bei der nur Einfaltspinsel Dienst nach Vorschrift schieben, so viel ist für Martin sicher.
„Wer ist da?“ denkt Martin laut und dreht sich erschrocken um. Doch da ist niemand. Martin ist allein. Plötzlich schwitzt er prächtig. Er hat Schiss. Der Spion ist noch da, Mist. Womöglich in den Wänden. Oder unsichtbar gemacht durch eine neuartige Technologie, die hier an ihm erprobt wird. Martin wird panisch. Er spürt, wie sich sein Hals zusammenschnürt und das Gefühl aus seinen Fingern weicht. Die Panikattacke steht kurz vor der Eruption. Das halte ich keine Nacht mehr aus! Ich brauche Hilfe. Und zwar sofort. Martin beschließt einen kleinen Ausflug zu machen. Er türmt aus dem Gebäude und rennt zur nächsten Telefonzelle. Natürlich nicht, ohne sich dabei hundertmal zu vergewissern, dass ihm niemand folgt. Angekommen, wählt er ohne zu zögern die Nummer der Polizei. „Einen Augenblick, bitte!“ verlangt die Automatenstimme. Er zittert mittlerweile. Wenn ihn hier jemand erwischen würde! Seinen Job wär’ er los! Und erst die Demütigungen! Martin wird es immer mulmiger. Er ist klitschnass, wo es nur möglich ist. Dann beschreibt Martin genau, was ihn bedrückt, wovor er Angst hat. „Ein Unbekannter, ja, sag ich doch“, bekräftigt er immer wieder. „Ich will, dass Sie den Mistkerl schnappen. Hören Sie? Sorgen Sie dafür, dass er seine gerechte Strafe bekommt, um nie wieder Unschuldige zu belauschen.“ Man kümmere sich um den Fall, beschwichtigt die Stimme aus dem Hörer und legt auf. Martin vertraut ihr und geht zurück auf sein Zimmer.
Der Bericht ist fertig, er liegt faltefertig vor ihm. Doch da entdeckt Martin, dass seine Tür noch etwas offen steht. Muss er vorhin wohl vergessen haben, kein Wunder bei der Panik. Ob der Bote trotzdem kommt? Martin will es wissen und ist überzeugt, diesmal die Person zu den Phantomschritten zu Gesicht zu kriegen. Langsam schleicht sich Martin an die Tür, er linst durch den Spalt. Nichts! Keiner da. Aber okay, macht überhaupt nichts. Spannend wird es ja erst jetzt. Er nimmt das Blatt und faltet es leise in der Mitte. Dann legt er es vorsichtig auf den Boden vor dem Schlitz und bleibt hocken. Er muss dem Zettel nur einen scharfen Stoß mit dem Finger verpassen, dann fliegt es raus auf den Flur, raus zu Mister Unbekannt. Er atmet tief durch, er will seine Aufregung zähmen, dann setzt Martin an und – schnippt! Sofort richtet er sich auf, um durch den Türspalt zu gucken. Nichts! Was zum Teufel?! Martin reißt die Tür auf – nichts. Er schaut nach rechts – auch nichts. Er guckt nach links den schweigenden Gang runter – hier ist nirgends jemand zu sehen. Vor sich auf dem Boden sieht er den Bericht liegen. Exakt mittig gefaltet wartet er brav auf seinen Abtransport. Aha!, denkt Martin und glaubt, das System durchschaut zu haben. Er schließt die Tür und schiebt noch einmal den Zettel gleichgültig unter der Tür durch. Augenblicklich hört er Schritte auf der anderen Seite, die langsam auf dem Gang zu spazieren scheinen. Er will die Tür noch einmal sperrangeln. Er lässt es. Er geht schlafen.
Morgens geht es ihm viel besser. Martin spürt neue Freude an der Arbeit. Er vergisst sogar das Frühstück und nimmt sich stattdessen all seine Aufzeichnungen vor, um die Zielperson intensiver kennen zu lernen. Schlau wie er ist, hat er jeden Bericht handschriftlich kopiert. Nicht wie damals, als Mutti ihm den Einkaufszettel zum Auswendiglernen gab und nach zwei Minuten wieder einzog. Als Martin dann ohne Milch nach Hause kam, gab’s mächtig Theater. Nee du, nie wieder!
Er studiert den ganzen Tag, was seine Zielperson in den letzten Wochen so tat, was sie sagte, wen sie traf, sogar was sie dachte. Mein Gott, trauert Martin, meine Zielperson ist echt ein armes Schwein! Harte Arbeit, kein Kontakt zur Familie, verrückte Vorgesetzte, die ihn für irre erklären, Verfolgungswahn und ein erschreckend heftig ausgeprägter Sinn für Gehorsam. Martin empfindet Scham. Wie konnte er nur! Dieser Bursche hier ist doch längst am Boden. Martin wird reuig. Und ein schwerer Seelenseufzer bahnt sich seinen Weg. Er schläft mit schuldigen Tränen ein – und ein deutscher Geheimdienst ohne Martins Bericht.
„Guten Morgen, junger Freund. Ausgeschlafen?“, weckt Martin eine vertraute Stimme.
Er gähnt. Er öffnet die Äuglein. Und er sitzt. Martin kuckt in das freundliche Gesicht des Professors. Martin hockt auf seinem Lieblingsstuhl, gut verpackt in seine Bettdecke. Er befreit sich von ihr, um keine lächerliche Figur zu machen. Immerhin trägt er einen Schlafanzug.
„Guten Morgen“, beteiligt sich nun auch Martin am Gespräch und zögert, „Herr Professor!“ Martin sucht Bestätigung in dessen Augen, der Professor nickt.
„Tut mir leid, dass wir Sie schon so früh herbringen mussten. Aber die Sache ist ernst.“
Martin schluckt.
„Worum geht es denn?“
„Sie waren beim Arzt?“
„Ja, aber nur ein paar Stunden“, verteidigt sich Martin.
„Was hat er denn gesagt?“ bohrt der Professor.
„Dass ich gesund bin“, strahlt Martin ihn an.
„Soso. Was haben Sie ihm denn erzählt?“
„Nichts, wie es die Vorschriften verlangen. Die Fragen habe ich gestellt.“
„Und welche waren das?“
„Ob mich jemand verfolgt.“
„Und er hat natürlich Nein gesagt, hab ich Recht?“ der Professor wirkt angespannt.
„Genau so wars!“ Martin hält sich an den Armlehnen fest.
„Ich hatte Ihnen doch ausdrücklich gesagt, dass Sie ihm alles erzählen sollen. Nur dann könne er Ihnen helfen.“
„Aber die Vorschrift!“
„Welche Vorschrift?“
„Sie sagten doch, nichts darf diesen Raum verlassen.“
„Richtig. Und?“
„Wie meinen Sie das? Wenn ich was über den Geheimdienst ausgeplaudert hätte, wären Sie doch gezwungen gewesen, meine Familie zu demütigen.“
„So ist es. Und das sogar öffentlich“, betont der alte Mann mit königlicher Würde.
„Also habe ich nichts erzählt.“
„Junger Freund, glauben Sie denn, wir überwachen jeden Quacksalber im Land?“
Martin versteht nicht.
„Wir haben unsere Ohren doch nicht überall! Bei Ihrem Arzt zum Beispiel, da gab’s keine einzige Wanze!“
„Aber Herr Professor, woher wussten Sie denn eben, dass der Arzt Nein gesagt hat?“ Martin ist schon wieder den Tränen nahe.
„Wusste ich doch gar nicht!“ erklärt der Professor, „Sie haben es bloß bestätigt!“
Martin fühlt sich ertappt. Mal wieder.
Die Professorenfalten entfalten sich, der Alte beginnt herzlich zu lachen. Martin begleitet ihn verzweifelt.
„Da habe ich Ihnen aber einen hübschen Schrecken eingejagt, nicht wahr, junger Freund?“ Der Gelehrte prustet schon.
„Und wie!“ Martin wird lockerer.
„Sie müssen auf Ihre Worte achten! Hier entscheiden schon Silben über Ja oder Nein, Leben oder Tod.“
„Natürlich, Herr Professor!“
„Sie sollen meinen Decknamen benutzen, verdammt noch mal!“ poltert der Professor plötzlich.
„Selbstverständlich, Herr Professor!“
„Na also, es geht doch! Und was den Arzt angeht, junger Mann, der hat geplaudert wie ein Waschweib! Nachdem wir seine Familie ins Spiel brachten, war er kooperativ“, lehnt sich der Mann mit dem irrwitzigen Decknamen in seinen vermutlich äußerst bequemen Stuhl.
„Arbeitet der etwa auch hier?“ wundert sich Martin.
„Wer?“
„Mein Arzt!“
„Jetzt schon“, grinst der Professor, „aber werden Sie erstmal richtig wach. Ach noch was!“
„Ja?“
„Wenn Sie noch einmal ihren Bericht versäumen, sind Sie fällig!“ lacht der Professor.
Er wird Martin gerade wieder unheimlich.
„Gehen Sie auf Ihre Stube, waschen sich, essen was und dann sehen wir uns etwas später zur Lagebesprechung im Raum 000.“
„Später als was?“
„Seien Sie doch nicht wieder so pedantisch, junger Freund, Sie wurden mir gerade sympathisch.“
„Verstehe, dann bis äh…etwas später!“
Martin schnappt seine Bettdecke und schlurft zurück in sein Zimmer.
Etwas später betritt er Raum 000. Martin ist allein, oder wieder nur der erste. Er nimmt den mittleren Platz in der ersten Reihe. Ganz nah am Pult. Ein paar Sekunden nach ihm kommt Herr Geheim rein.
Der dröhnt gleich los: „Wo waren Sie denn die ganze Zeit?“
„Ich war mich frisch machen, habe Frühstück gegessen und bin danach sofort zu Ihnen.“
„Lügner!“
„Wie bitte?“ Martin ist irritiert.
„Sie wollten zum Professor!“
„Ja, er sagte, wir treffen uns hier im Raum 000.“
„Also sind Sie doch nicht zu mir?“
„Ähm nein, zum Professor!“ stottert Martin.
„Und warum sind Sie dann nicht beim Professor?“
„Weil er noch nicht hier ist.“
„Treib’s nicht zu weit, Bürschchen!“
„Was?“
„Treib’s nicht zu weit, junger Freund!“
„Ich weiß, dass ich gemeint war. Aber was soll ich nicht zu weit treiben?“
„Sie wissen das vielleicht. Aber die anderen nicht.“
Martin unterlässt es, sich umzudrehen. Er ahnt, wen er dort sehen würde: niemanden.
„Sie sollen mich nicht weiter anlügen.“
„Tu ich doch gar nicht. Ich warte auf den Professor.“
„Dann warten Sie gefälligst bei ihm. Wir haben hier zu tun.“
„Wissen Sie denn, wo der Professor ist? Oder wann er kommt?“ Martin setzt alles auf eine Karte.
„Sicher. Er ist in seinem Büro.“
„Aber er sagte ausdrücklich im Raum 000.“
„Korrekt. Das ist sein Büro.“
„Wie kann das sein?“
„Es ist der Deckname seines Büros“, flüstert ihm Herr Geheim zu.
„Aha. Und warum?“
Der Mann flüstert weiter: „Wegen der Wanzen von den feindlichen Geheimdiensten. Man kann ja nie wissen.“
„Das ist wirklich sehr umsichtig“, bewundert Martin diesen kräftigen Burschen, „und welchen Decknamen hat Ihr Büro, wenn ich fragen darf?“
„Raum 000“, haucht Herr Geheim.
Martin wird die Sache etwas wirr: „Wieso denn auch 000?“
„Jedes Zimmer in diesem Haus hat einen Decknamen.“
„Und mein Zimmer?“
„Raum 000,“ scheint Herr Geheim gerade zu denken, nur seine Lippen bewegen sich, ohne einen hörbaren Laut.
„Wie bitte?“
„Raum 000“, bekommt Martin endlich deutlich zu hören.
„Aber bei mir findet nie eine Lagebesprechung statt!“
„Das weiß doch der Feind nicht!“
„Und woher wissen Sie dann, wo wirklich eine Besprechung abgehalten wird?“
„Von der Hauspost. Die lügt nie. Die benutzt immer den richtigen Namen.“
„Achso, sehr schlau. Und wo ist jetzt Raum 000?“
„Da wo der Professor ist. Und jetzt machen Sie sich endlich aus dem Staub!“
„Jawohl!“ Martin nimmt Haltung an und verlässt Herrn Geheim und dessen stilles Publikum.
Der Professor sitzt vor seinem wuchtigen Schreibtisch und lässt es sich gut gehen – in einem Sessel, von dem Martin manchmal glücklich träumt und dabei schwer ins Kissen sabbert.
„Junger Freund, setzen Sie sich kurz.“
Martin gehorcht enttäuscht.
„Das Gremium bemängelt Ihre Leistungen erheblich!“ schwadroniert der Professor.
„Das tut mir sehr leid.“
„Wir haben übrigens noch immer keinen neuen Bericht von Ihnen erhalten!“
„Aber der Tag ist doch noch gar nicht rum!“ rechtfertigt sich Martin.
„Na und!“
„Ich werde mich bessern, es ist nur…“, er überlegt kurz, ob er diesmal nach dem Gremium fragt, lässt es aber wieder bleiben.
„Ja! Ich höre?“
„Diese Zielperson – sie, sie… sie ist so schwach! Sie hat Angst, außerdem glaube ich, dass sie den Braten gerochen hat. Warum muss ich sie beobachten?“ Martin schluchzt.
„Weil Herr Geheim es Ihnen befohlen hat!“
„Woher wissen Sie das? Er sagte doch…“
„Das darf ich Ihnen nicht sagen, die Plaudertasche möchte nicht genannt werden. Sie ist geheim.“
Martin wischt sich Tränen von der Backe.
„Junger Freund, machen wir es kurz: Sie sind suspendiert! Machen Sie Urlaub, kommen Sie runter, schlafen Sie sich aus, fahren Sie zu Ihrer Mutter, sie wartet schon.“
„Aber was wird hier aus meiner Arbeit?“ Martin wimmert wie ein fettes Mädchen beim Schulsport.
„Das überlassen Sie mal uns, wir haben dafür Spezialisten, die kümmern sich hervorragend darum.“
Martin atmet auf.
Der Professor hebt die Stimme: „Aber vergessen Sie eins nicht!“
Martin zuckt zusammen.
„Junger Freund, wenn auch nur ein Geheimnis nach draußen dringt, erwarten Sie ernste Konsequenzen.“
Martin befürchtet einen Satz mit Familie, öffentlich und Demütigung.
„Sie ahnen wohl schon was, he?“
„Sie wären leider gezwungen, meine Familie öffentlich zu demütigen?“ vermutet Martin.
„Nein, glauben Sie, ich bin pervers oder was? Nein, Sie müssten mehr Verantwortung übernehmen.“
„Wie, mehr Verantwortung? Was meinen Sie damit? Wie soll ich das schaffen?“ Martin kreischt wie eine mexikanische Nutte und flötet in den höchsten Tönen.
„Unterbrechen Sie mich nicht, sonst wüssten Sie es bereits!“ erwidert der Professor zornig.
„Tut mir leid!“
„Sie müssten uns beweisen, wie ernst es Ihnen mit Ihrer Arbeit ist.“
„Ich schwöre, es ist mir außerordentlich ernst!“ beteuert Martin.
„Schön zu hören. Aber ich glaube Ihnen nicht! Wir haben hier bessere Methoden als diesen anachronistischen Schwur.“
Martin befürchtet diesmal den Satz mit Familie, öffentlich und Demütigung.
„Sie müssten noch mehr über Ihre Zielperson herausfinden.“
„Noch mehr?“
„Ja, Sie beobachten sie doch bisher den ganzen Tag, nicht wahr?“
„Das ist korrekt“, antwortet Martin selbstbewusst. Die Wangen glänzen salzig.
„Damit wäre dann Schluss! Sie würden die Zielperson auch nachts studieren. Wir wollen schließlich wissen, was sie träumt, wohin sie schlafwandelt und ob sie schnarcht!“
Martin zweifelt aufrichtig an seinen Fähigkeiten und antwortet: „Ja, Herr Professor! Ich sage kein Wort!“
„Das höre ich gern. Viel Spaß im Urlaub!“ verabschiedet ihn der Professor plötzlich ausgelassen.
Martin hockt seit 24 Stunden in seiner Wohnung. Mittlerweile ist der Müll beseitigt und neues Klopapier gekauft. Selbst seine Mutter hat er schon fast angerufen. Vorgenommen hatte er es sich morgen, für Punkt kurz nach bald. Die Tür klingelt. „Na endlich, der Pizzajunge!“, denkt Martin erleichtert, er ist fast am Verhungern.
„Guten Tag, Sie sind verhaftet!“ begrüßt ihn ein Polizeibeamter freundlich. Der Pizzajunge steht dahinter und wird von bewaffneten Männern freigelassen.
„Darf ich erfahren, weshalb?“ entrüstet sich Martin.
„Ihnen wird vorgeworfen, fremde Menschen zu belästigen. Genauer gesagt: Stalking. Das ist längst kein Kavaliersdelikt mehr, Freundchen!“ antwortet der Beamte streng.
„Wen soll ich denn belästigt haben?“
„Das dürfen wir Ihnen nicht sagen, außerdem hat die betreffende Person ihren Namen nicht verraten. Sie kommen jetzt erstmal mit aufs Revier.“
„Aber ich muss doch meine Mutter anrufen! Sie weiß noch nicht mal, dass ich … ähm … Urlaub habe.“
Martin wird abgeführt.
Auf der Wache wird er in eine Zelle gesteckt und drei Tage mürbe gemacht. Polizisten servieren ihm ausschließlich Königsberger Klopse ohne Kapern und in seiner Zelle hängt nur eine Pritsche, ein Waschbecken und es gibt wieder keinen Stuhl!
Am vierten Tag wird er vernommen.
„Raus mit der Sprache, junger Freund, warum mussten Sie ausgerechnet diesen armen Burschen belauschen?“ fragt ihn der Beamte grob, „Sie können sich vielleicht nicht vorstellen wie erbärmlich er am Telefon geklungen hat, aber wir mussten diese Bänder zigmal anhören“, unterstreicht der Beamte nun deutlich mitfühlender.
Martin besteht darauf, mit seinem Namen angesprochen zu werden. Doch für Forderungen sitze er auf der falschen Seite des Tisches.
„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen“, behauptet Martin immer wieder.
Niemand glaubt ihm. Er wird in eine andere Zelle verlegt. Dort wartet schon ein Insasse auf ihn. Erfreulicherweise eine Frau.
„Frau Lein? Sind Sie das?“ staunt Martin.
„Ich fürchte ja, junger Freund.“
Sogar die gute Frau Lein hatte sich also dieses ‚junger Freund’ angewöhnt!
„Warum sind Sie hier? Was ist passiert? Hat uns jemand verpfiffen?“ fragt Martin aufgeregt.
„Ich weiß nicht so genau“, fängt sie an, „aber ich glaube, es ist alles meine Schuld.“
„Wie sollte das möglich sein?“
„Der Professor wollte sich rächen“, gibt sie verschämt zu.
„An Ihnen?“
„Nein, nein. An Herrn Geheim“, präzisiert Frau Lein.
„Verstehe ich nicht. Sie sitzen im Knast, weil er sich an Herrn Geheim gerächt hat?“
„Genau! Aber vielleicht sollte ich Ihnen noch etwas anderes sagen.“
„Ja, bitte“, fleht Martin.
„Das Wichtigste, das Sie wissen sollten: Herr Professor gehört zum Gremium.“
„Was ist das Gremium?“ traut sich Martin endlich.
„Das sind zwölf alte Herrschaften. Und nur die entscheiden über alle Personalfragen und interne Angelegenheiten; wer darf den Fahrstuhl benutzen, wer wird wie angesprochen, welche Möbel kommen in welches Zimmer, profane Sachen halt.“
„Ich verstehe“, gibt Martin vor.
„Allerdings darf Herr Professor, wie übrigens jeder der zwölf, sich selbst befördern – ein paar Monate Dienst auf dem gleichen Posten genügen schon.“
„Mhm“, gibt Martin zu bedenken.
„Seine Personalgespräche fanden alle in seinem Büro statt. Dort bat er die elf anderen um eine neue Stelle, dann zog sich das komplette Gremium einschließlich ihm zurück und beriet über die Anfrage des Professors. Doch das Gremium war unterwandert. Verschiedene ausländische Quellen sprechen von einem alten Gelehrten, seinen richtigen Namen kennt keiner. Offiziell.
„Was hat Herr Geheim damit zu tun?“
„Er war von Anfang an sein schärfster Konkurrent um die besten Positionen. Allerdings gehört Herr Geheim nicht zum Gremium, er darf sich nicht selbst befördern, das macht der Professor. Dieser gibt dann schriftliche Empfehlungen an das Gremium und die entscheiden schließlich im Raum 000. Jedoch hält er Herrn Geheim immer schön klein, logisch, ist ja sein Rivale.“
„Woher wissen Sie das alles?“ unterbricht Martin.
„Weil ich dabei war und Protokoll führte. Unter anderem setzte ich auch diese Empfehlungsschreiben auf.“
„Und wofür wurde Herr Geheim bitteschön befördert?“ fragt Martin skeptisch.
„Für seine vorbildliche Personalführung und innovative Arbeit als Auftragserteiler. Außerdem führte er neue Methoden der Präsentation ein. Zum Beispiel seine selbst erfundene ‚Mono-Präse’. Die spart Personal und ist höchst effizient.“
„Was? Aber der Kerl war doch mindestens bekloppt!“
„Sie etwa nicht?“
„Also eigentlich nicht!“, verteidigt sich Martin nur mäßig.
„Aber es gab ja noch die Regeln des Professors. Keine Information verlässt seinen Raum. Sonst…“
„…müsste er seine Familie demütigen?“ ergänzt Martin unsicher.
„Und zwar öffentlich!“
„Seine eigene?“
„Genau die!“
„Aber was heißt das denn jetzt?“ drängelt Martin.
„Das er sein hohes Amt niemals innehatte!“
„Wie jetzt?“
„Wie was?“ will Frau Lein wissen.
„Nicht schon wieder!“ befürchtet Martin und antwortet gleich: „Was meinen Sie damit, er hatte sein Amt nie inne?“
„Die Beförderungen fanden doch alle bei ihm statt. Folglich durften diese Informationen nicht den Raum verlassen und waren ungültig.“
„Und weiter?“
„Herr Professor war nur noch Lakai! Es stellte sich heraus, dass Herr Geheim hierarchiemäßig über Herrn Professor stand. Denn Herr Geheim wurde ja ganz korrekt vom Gremium befördert. Und damit ist Herr Geheim jetzt sein Vorgesetzter.“
„Sie sagten noch was von Rache?“ Martins Ungeduld zerreißt ihn fast.
„Ja, jetzt wo Herr Geheim die nötigen Befugnisse hatte, wollte er Herrn Professor eins auswischen für dessen eigenwillige Mitarbeiterförderung. Er verpfiff ihn beim Gremium wegen Verstoß gegen die Regeln. Gegen seine Regeln!
„Das nichts den Raum verlassen darf?“
„Ganz genau! Der Professor wurde für den folgenden Tag fristlos entlassen. Jemand der seine eigenen Gesetze nicht befolgen kann, habe dort nichts zu suchen, hieß es.“
„Was ist denn jetzt mir der Rache?“
„Um sich wiederum beim Geheimdienst zu rächen, zeigte Herr Professor mich noch schnell an, er hatte ja kaum Zeit. Ihm blieb nur noch sein letzter Tag.“
„Und was sollen Sie verbrochen haben?“ wundert sich Martin.
„Er behauptete, ich habe ebenfalls gegen seine Regeln verstoßen.“
„Aber das ist doch gelogen!“ protestiert Martin.
„Von wegen! Es stimmte alles, ich musste sie missachten! Sonst wären doch alle Protokolle umsonst gewesen und ich hätte draußen noch mal alles abtippen müssen!“
„Und was hat er jetzt davon?“
„Ohne mich läuft der Laden doch nicht! Niemand kennt die richtigen Raumnummern“, zwitschert sie fröhlich.
„Sie waren das?“
„Ja.“
„Wie haben Sie das geschafft, also das mit der Hauspost?“
„Tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht sagen“, antwortet sie ernst, „sonst kriege ich Ärger.“
„Natürlich“, akzeptiert Martin mit schweren Lippen. Obwohl er sich nicht genau vorstellen kann, wie viel schlimmer es noch werden kann als hier im Gefängnis zu sitzen. Er vermutet, dass sie ihre Familie schützen will.
Beide schweigen sich an. Er enttäuscht und sie recht munter.
Martin weiß nicht mehr, wem er vertrauen soll und wem nicht. Was ihn aber am meisten beschäftigt: Was wird aus ihm? Und was wird seine Mutter sagen, wenn sie erfährt, dass Martin unter Verfolgungswahn litt, obwohl sie ihm doch befahl, nie wieder Angst zu haben! Außerdem forderte sie doch beruflichen Erfolg. Ist er jetzt Vollwaise? Martin hat doch sonst keinen! Als er so an seine Mutter denkt, fällt Martin auf, dass sie überhaupt sehr häufig sehr streng zu ihm war. Er pflückt sich ein paar Erinnerungen aus seiner Kindheit auf dem Land.
Ob es nun das Waschen aller Körperstellen war oder ihr steinerner Wille, die Eichenholzstühle von ihren Eltern zu behalten. Die hätten doch so schöne Intarsien und machen aus Jungs echte Männer, betonte sie immer, wenn Martin der Hintern schmerzte. Auch ermunterte sie ihren Sohn schon früh, Interesse am Beobachten von Vögeln zu entwickeln. Später kamen andere Tiere hinzu, am Ende die Nachbarn.
Als Martins erste zehn Hefte vollnotiert waren mit jedem Pieps, den jeder von sich gab, belohnte sie ihn mit Gerichten voller Kapern und begann, von seinem Vater zu erzählen. Kurz nach Martins Geburt verschwand er, einfach so, ohne ein Wort. Nur seine Lieblingseiswürfel ließ er zurück und etwas Seife. Ein intelligenter Mann soll er gewesen sein, studiert, und wie er sich immer mit den Uhrzeiten vertat! Einfach drollig, schwärmte Martins Mutter. Dass er plötzlich eine richtige Familie hatte, das schien ihn wohl zu überfordern, vermutete sie. Hätte nur seine Karriere gebremst. Martin lauschte damals angestrengt jedem Wort, schließlich gab’s ja sonst nichts zu erfahren über seinen Vater.
Martin planscht noch etwas in seinen Gedanken, dann schläft er ein. Er träumt vom Weltfrieden und einem gigantischen bequemen Stuhl, auf dem die Erde munter hin- und hermurmelt.
Neuer Morgen. Zwischen beiden Betten liegt ein Zettel. Martin weckt Frau Lein auf und stellt sie zur Rede. „Was dieser Mist hier soll?“ wirft er ihr immer wieder vor und ob sie sich über ihn lustig mache. Er wedelt wild mit dem Zettel. Ganz Louis, ganz de Funès. Sie habe nichts mit der Sache zu tun beteuert sie, einmal schwört sie es sogar.
Auf dem Blatt steht:
WO BLEIBEN IHRE BERICHTE, JUNGER FREUND? SCHIEBEN SIE SIE WIE GEWOHNT UNTER DER TÜR DURCH. IHRE BEFÖRDERUNG STEHT KURZ BEVOR. UND KEINEN TAG FRÜHER!
„Scheinbar ist er doch nicht gefeuert worden“, spekuliert Martin.
„Natürlich!“ Frau Lein klatscht sich mit der Hand die Stirn rot „Das Gremium muss auch bei einer Kündigung einstimmig entscheiden. Aber das ist eigentlich nicht der Punkt.“
„Sondern?“
„Er muss schon wieder eine Neue haben“, meint Frau Lein.
„Was für ne Neue? Sie meinen für die Hauspost?“
„Dabei sind wir noch nicht einmal geschieden“, plappert Frau Lein ganz in Gedanken versunken.
„Häh?“ Martin versteht gar nichts.
„Der Professor und ich, wir sind verheiratet. Ich heiße Lein-Professor. Hat Ihnen das keiner gesagt, junger Freund?“
„Nein, natürlich nicht, Fräulein Professor.“
„Frau Lein-Professor bitte!“
„Entschuldigen Sie. Wer hat es denn gewusst?“
„Alle, die es wissen durften.“
„Durfte ich auch?“
„Selbstverständlich, eine Ehe gefährdet doch nicht die nationale Sicherheit!“
„Aber warum hat keiner was gesagt oder Andeutungen gemacht?“
„Wir dachten, Sie wussten es.“
„Von wem denn?“
„Von Ihrer Zielperson. Die durfte es wissen. Sie muss Bescheid gewusst haben.“
„Aber das hat sie nicht.“
„Woher wollen Sie das wissen? Können Sie Gedanken lesen?“
„Nein, äh, ja. Bei ihr schon.“
„Geistige Bande oder so was, ne?“ amüsiert sich Frau Lein-Professor.
„So ähnlich. Warum haben Sie ihn überhaupt geheiratet? Herr Professor ist doch mindestens zwanzig Jahre älter als Sie.“
„Psst! Nichts so laut, junger Freund! Sie können doch nicht seinen bürgerlichen Namen hier herum posaunen. Sonst fliegen wir alle auf!“
„Tut mir leid.“
„Nun, in meiner ersten Ehe wurde ständig getratscht. Die Nachbarn kannten jedes Geheimnis meiner Familie, die Kollegen alles über die Nachbarn und alle, die nichts wussten, erfuhren es am nächsten Tag beim Bäcker von meinem Nachbar, der mit mir im selben Büro saß. Ich hasste es.“
„Und der Professor hatte seine Regeln.“
„Sehr richtig, junger Freund! Damit war das ewige Geschnatter endlich vorbei.“
„Frau Lein-Professor, ich finde das alles ziemlich merkwürdig“, konstatiert Martin.
„Warten wir erstmal den Gerichtsprozess ab. Bis dahin schreiben Sie mal schön weiter Ihre Berichte.“
„Warum?“
„Junger Freund, sie hängen doch an Ihrer Familie, oder nicht?“ fängt Frau Lein-Professor jetzt auch damit an.
„Sicher!“ antwortet Martin unsicher.
Da den ganzen Tag nichts weiter zu tun ist, hockt er auf seiner Pritsche und schreibt genau auf, was er tut, was er sagt, wen er trifft, einfach alles. Am Abend wartet er den Kontrollgang der Wachen ab, hockt noch zwei Minuten, dann schiebt er den Zettel unter der Tür durch. Er hat Frau Lein-Professor genau im Auge. Draußen spaziert irgendwer vorbei und hebt den Bericht auf. Martin rüttelt an der Tür, tritt kräftig dagegen und ruft laut. Er will wissen, wer da ist. Keine Antwort. Dafür kommen etwas später zwei aufgebrachte Wachen in seine Zelle und quälen Martin wegen des Geschreis mit kalten Portionen Königsberger Klopse ohne Kapern. Frau Lein-Professor liegt daneben und schläft.
Die nächsten Tage werden für Martin erträglicher, er schreit nicht mehr nach dem Boten und hat wieder eine Beschäftigung, die ihn ausfüllt. In diesen Tagen lernt er Frau Lein-Professor auch besser kennen und schätzen. Einmal, sie reden über Frau Lein-Professor technisches Geschick, berührt er sogar leicht ihren Unterarm. Nur einen Moment später segelt ein neuer Zettel herein:
HÄNDE WEG VON MEINER FRAU!
SONST KANN DAS GREMIUM IHRER BEFÖRDERUNG NICHT ZUSTIMMEN!
Martin zieht sofort die Hand zurück. Schüchtern und still schreibt er weiter seine Berichte.
Wieder vergehen Tage, die Martin gar nicht zählen mag. Er kommt trotzdem auf acht. Und befördert wurde er auch noch nicht. Ein Wärter verkündet:
„Hey Freundchen, morgen ist dein großer Tag!“
„Wieso?“ fragen Martin und Frau Lein-Professor aus einem Mund.
„Morgen kommst du vor den Richter. Da kannst du schön deine – Unschuld – beweisen.“ Bei dem Wort ‚Unschuld’ kratzt der Beamte mit Zeige- und Mittelfinger albern in die Luft als hätte er die Ärmchen eines T-Rex.
„Ich bin unschuldig!“ erwidert Martin nicht das erste Mal.
Als er in den Saal geführt wird, fallen ihm sofort die unbequemen Stühle auf, außer einem: seinem Platz. Martin deutet das als Zeichen zu seinen Gunsten. Es ist ein ohrenbetäubender Lärm. Ein richtiges Spektakel. Seit den vielen Skandalen um den Lauschangriff sind die Medien hinter jeder Story her, erst recht, wenn der Geheimdienst darin verwickelt ist. Der Saal ist brechend voll, alle zehn Bankreihen sind mit Schaulustigen, potenziellen Nachahmern und Reportern gefüllt. Die Kamerateams müssen draußen warten. Im Saal herrscht ausgelassene Bierzeltstimmung, alle sind froh dabei zu sein. Außer einer.
Martin lümmelt sich in seinen Lieblingsstuhl, den er zwar schnell wieder verlassen, jedoch nicht loslassen will.
Der Staatsanwalt verliest die Anklage. Martin wird als Hauptbeschuldigter genannt. Einen Verteidiger bekommt er nicht. Er bekennt sich nicht schuldig. Dann werden die Nebenkläger aufgezählt. Dazu gehören der unbekannte Anrufer, Herr Professor Horst Professor sowie ein Mann, der nicht genannt werden will. Geheim!, wie dieser auffallend häufig behauptet, ohne sich dabei von den Journalisten abzuwenden.
Der Richter ruft den ersten Zeugen herein.
Martin traut seinen Augen kaum: „Mutti? Was machst du denn hier?“
Seine Mutter nimmt Platz.
„Also Frau… äh, ach hier stehts ja. Guten Tag erstmal“, begrüßt sie der Richter.
„Guten Tag.“
„Sie kennen die Anklage?“
Sie nickt enttäuscht.
„Fangen wir in seiner Kindheit an: Hat er schon früher Dinge beobachtet?“
Sie nickt wieder und schnäuzt in ein Taschentuch.
„Hat er sie auch aufgeschrieben?“
Sie nickt weiter und schluchzt.
„Aber Mutti!“ ruft Martin herüber.
„Und, was waren das für Dinge?“, platzt der Staatsanwalt dazwischen, „Waren das auch fremde Personen?“
Wieder nickt sie, ohne ein Wort zu sagen.
„Mensch Mutti! Jetzt sag doch mal was!“ schreit Martin.
„Junge, ich hab dir doch gleich gesagt, du sollst dich anstrengen. Dann wären wir alle drei wieder glücklich. Und jetzt so was!“
„MUTTI!“ empört sich Martin mit Tränen in den Augen, er ahnt wohin das Ganze führt.
„Halten Sie den Mund, junger Freund!“ brüllt der Richter zurück, „Noch Fragen an die Zeugin?“
Der Staatsanwalt schüttelt den Kopf.
„Dann können Sie dort drüben Platz nehmen“, wendet sich der Richter an Martins Mutter.
Sie nimmt das Angebot an.
Der Richter verlangt den zweiten Zeugen.
Frau Lein betritt den Raum.
„Sie?“ wundert sich Martin.
„Fräulein Professor, bitte setzen Sie sich.“
„Danke, Herr Richter, aber ich heiße Frau Lein-Professor.“
„Natürlich. Kommen wir gleich zum Wichtigsten: Hat der Verdächtige je andere Leute beobachtet?“
„Also ich habe nie gesehen, wie er jemanden ausspionierte. Für mich ist er unschuldig.“
Martin dankt ihr still.
„Blödsinn!“ kreischt der Professor, „Alles Unfug. Sie hat gegen die Regeln verstoßen!“
„Welche Regeln?“ möchte der Richter wissen.
Der Professor verschränkt schnaufend die Arme und versucht, die Hummeln im Hintern zu beruhigen.
„Vielen Dank Frau Lein-Professor. Keine weiteren Fragen? Gut, Sie können da hinten Platz nehmen.“
Der Richter bittet das Opfer herein.
Nichts passiert. Es kommt nicht.
Martin kuckt sich um. Im Publikum hustet jemand. Alle starren auf die hintere Tür zum Gerichtssaal. Sie bleibt zu.
Der Richter ruft: „Der anonyme Anrufer, bitte!“
Langsam steht Martin auf und schlendert zum gefürchteten Stuhl ohne Polster.
„Ah, Sie sind also der geheimnisvolle Anrufer!“ begrüßt ihn der Richter.
Viele im Publikum senken die Köpfe und schütteln sie sacht. Mitleid nieselt durch den Saal, schwillt lautlos an und ergießt sich bis auch Martin darin versinkt.
„Was ist damals genau passiert?“
„Ich fühlte mich beobachtet! Jemand spionierte mich aus und machte Notizen über alles, was ich tat, was ich sagte, wen ich traf, einfach alles. Kennen Sie dieses Gefühl?
Der Richter schüttelt den Kopf. Im Saal herrscht betroffenes Schweigen.
„Ich hatte Angst, verdammt noch mal. Dieses Schwein ließ mich nicht mehr ruhig schlafen!“
„Ich verstehe. Noch Fragen an das Opfer? Nein? Gut, dann nehmen Sie wieder Platz.“
Martin setzt sich wieder auf den gepolsterten Stuhl des Angeklagten.
Der Richter wendet sich an Martin: „Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen, junger Freund?“
„Ich war es nicht!“
„Lügner!“ ruft wieder der Professor, „Er hat auch gegen die Regeln verstoßen!“
„Beschreiben Sie doch mal Ihre Arbeit!“ fragt der Richter Martin unbeirrt.
„Das darf ich nicht.“
„Oh, das dürfen Sie also nicht! Wer hat es Ihnen denn verboten, junger Freund?“
Martin kann die Floskel nicht mehr hören, er presst mehr Luft durch die Nase als anatomisch möglich.
„Können Sie mich verstehen?“
Martin nickt mit bebenden Nasenflügeln.
„Junger Freund, dann beantworten Sie meine Frage!“ befiehlt der Richter streng.
„Verflucht noch mal, das ist geheim!“
Herr Geheim dreht sich um.
„Wie oft soll ich Ihnen diese Frage noch stellen? Antworten Sie gefälligst endlich, junger Freund!“ dröhnt der Richter, „Oder Sie sitzen Ihr restliches Leben hinter…“
Martin schreit dazwischen: „Jetzt hab ich aber genug, verdammt noch mal!
„Beruhigen Sie sich, Sie sind hier bei Gericht!“
„Und Sie nicht bei Verstand!“
Der Richter schlägt mit seinem Hammer zu. Dreimal. Dann ist Ruhe.
„Vierzig Tagessätze in Höhe von je einhundert Euro wegen Amtsanmaßung.“
„Was?“ brüllt Martin.
„Genau!“ unterstützt der Professor hilfreich, „Der Junge hat längst nicht genug! Erhöhen Sie auf fünfzig!“
„Hundert!“ ruft jemand.
„Tausend!“ Herr Geheim.
Das Publikum applaudiert und johlt.
„Ruhe im Saal. Oder ich lasse Sie alle rausschmeißen!“
Bei Martin rumort es kräftig in den Eingeweiden.
„Junger Freund, Sie wollten sich gerade an der Aufklärung des Falles beteiligen?“ fragt ihn der Richter.
Martin zeigt auf den Professor: „Der alte Sack da, der heißt Professor! Im wahren Leben und mit Decknamen. So, jetzt isses raus.“ Er richtet seinen entlarvenden Finger auf Herrn Geheim, „Und der da, das ist Geheim!“ Herr Geheim kuckt stolz aus der Wäsche, als der Professor das bemerkt, setzt Geheim eine grimmige Visage auf.
Herr Professor steht auf und fuchtelt mit der Faust: „Verräter!“
„Und Sie sind ein Betrüger! Ein Schwindler und ein…“
„Arschloch!“ ruft jemand dazwischen.
„Wichser!“
„Sackgesicht!“
Jetzt kommt der Saal in Schwung.
„…ein Schwindler und ein Heuchler!“ vollendet Martin.
„Yeah!“ brüllen zwei Halbstarke und klatschen sich ab.
„Hängt ihn!“
„Lebenslänglich!“
„Todesstrafe!“
„Wer hat das eben gesagt?“ erkundigt sich der Richter.
„Schnauze, Opa!“
„Aber er hat gegen die Regeln verstoßen!“ krächzt ein aufgewühlter Professor.
Der Richter klöppelt mit seinem Hammer wild aufs Brettchen. „RUHE!“ Er drischt vierzehnmal drauf ein, dann bricht der Stiel, der Kopf springt vom Tisch und hüpft munter durch den Saal.
Viele im Publikum sind aufgestanden und schreien nun wild durcheinander. Es haben sich zwei Lager gebildet: Martins Gegner und seine Befürworter. Wüste Beschimpfungen fliegen umher, die Polizisten versuchen vergeblich die Masse zu bändigen. Man hört saftige Backpfeifen trillern.
„Junger Freund! Das ist alles Ihre Schuld!“ ruft ihm der Professor mit knallrotem Gesicht rüber. Er scheint gleich zu platzen.
„Halten Sie doch endlich die Klappe!“
„Junger Freund, wie reden Sie denn mit mir!?“
„Wäre Ihnen Ihr Deckname lieber?“ kläfft Martin gehässig zurück.
„Und Sie sollten eins noch wissen“, schreit der Gelehrte zu Martins Mutter, „Ihr Sohn war ein miserabler Mitarbeiter. Er verzog sich ständig in sein Zimmer und tat furchtbare, unanständige Dinge!“
Tränenverschmiert fragt sie ihn, was das genau war.
„Unaussprechliche Dinge!“ erklärt der Professor zornig, „Hören Sie, junger Freund? Un-aus-sprech-lich-e Dinge!“
„Halten Sie endlich Ihr dreckiges Schandmaul! Und nennen Sie mich NIE WIEDER JUNGER FREUND!“
Martin zottelt und zerrt an seinem Stuhl, er tost vor Wut. Es knackt laut. Plötzlich hat er zwei Armlehnen in der Hand. Schön gepolstert und unglaublich geschmeidig. Er zögert keine Sekunde und ruft Frau Lein zu:
„Wie ist Ihr Vorname?“
„Margarete!“
Sie stehen keine fünf Meter voneinander entfernt.
„Margarete, ICH LIEBE SIE! Kommen Sie mit mir!“
„Aber, wie stellen Sie sich das denn vor?“
„Mit Regeln. Mit meinen Regeln!“
„Aber ich, ich… ich kann nicht! Ich liebe meinen Mann noch immer!“
Martins Mutter stöhnt vor Erschöpfung.
Und er jammert: „NEEEEIN!“
Währenddessen ist der Professor schwer damit beschäftigt, alle im Raum wissen zu lassen, wer alles gegen seine Regeln verstoßen hat.
Martin flieht durch die aufgebrachte Menge raus zur Saaltür. Mit einem kräftigen Tritt gegen die Klinke öffnet sie sich polternd. Die Armlehnen noch immer fest im Griff. Hinter ihm fliegen die ersten Stühle, auch Faustschläge fallen schon vereinzelt. Spitze Schreie mischen sich mit der grunzenden Gier nach Gewalt und Blut. Rohe Kräfte beseelen die Gemüter.
Martin steht vor der Tür. Er dreht sich, um sicher zu gehen, dass sie wieder zu ist. Auf der Saaltür steht 000. Er schaut sich die Umgebung an. Er steht vor einem Seiteneingang des Geheimdienstes, so was! Es ist kein Kamerateam mehr zu sehen. Alle fort. Martin nimmt den nächsten Bus und verschwindet von hier. Er ist ein freier Mann. Und stolzer Besitzer eines wahren Schatzes.
Drinnen. Während das Chaos tobt, versteckt Martins Mutter ihr Gesicht hinter den Händen. Sie heult wie ein tollwütiger Köter bei Vollmond. Der Professor wendet sich an Herrn Geheim:
„Sagen Sie, wusste Martin überhaupt, dass ‚junger Freund’ sein Deckname war?
Herr Geheim grinst schelmisch: „Ich denke schon!“
„Sind Sie sicher?“
„Sogar sehr!“
„Sie haben es ihm doch bei der ersten Lagebesprechung gesagt, oder?“
„Haben Sie Ihre Regeln wieder vergessen, Herr Professor? Alles aus Raum 000 ist strengstens geheim!“ Damit beendet Herr Geheim das Gespräch und bereitet sich intensiv auf seine nächste Mono-Präse vor.
Ende
am 28.08.2008 um 2:17 Uhr
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hmm, etwas verwirrend die story. hab sie nur zu ende gelesen um am ende noch ein kommentar abzugeben. normalerweise wäre ich wohl nach 2 absätzen ausgestiegen. stilistisch gut gemacht. aber die story fand ich langweilig. vermutlich weil ich keinen rechten sinn darin gesehen hab.oder ich hab sie nicht gerafft. in diesem fall erübrigen sich die folgenden bemerkungen.
etwas surreal, ich kam mir vor wie asterix der passierschein 37A besorgen soll. die informationen die einem gegeben werden machen keinen rechten sinn. ist martin in der klapse gelandet, hat er das ganze nur geträumt? warum merkt er nicht das der laden offensichtlich etwas quer läuft? hat er eine schizophrene persönlichkeit (wenn er sich selbst beobachtet und verfolgt fühlt)? er ist teil vom system, soviel ist klar. aber was ist das für ein system? und was hat das system mit elegie (trauergesang) über arbeit zu tun?
am 29.08.2008 um 11:42 Uhr
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@herrn fuchs
Erstmal danke für deine Geduld, deine ehrliche Meinung - und natürlich deine Fragen.
Also:
Martin ist natürlich nicht in der Klapse, er hat einen typischen Vorgesetzten mit Allmachtsfantasien.
Das was nicht stimmt, merkt er schon, nur tut er nix dagegen, weil sein Motiv zu bleiben stärker ist (seine Mudda, seine Kindheit!).
Schizophren vielleicht später mal, noch hat er eine völlig harmlose Verfolgungsangst; dass er es selbst ist, der ihn beobachtet, macht die ganze Sache nur prickelnder (fand ich).
Tja, und das System heißt Angestelltenverhältnis; wie heftig so was ausarten kann, soll die Geschichte zeigen - eben ein Klagelied auf Arbeit in deutschen Landen.
Ich hoffe, das hilft dir erstmal weiter. Sonst fragen.