Aus der Serie: Faszinierende Frauen des Industriezeitalters: 100 Jahre Gisette Paulinger. Versuch einer Biographie.
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Eine der faszinierendsten und schillerndsten Frauen des vergangenen Jahrhunderts ist sicherlich Paulette Gisette Paulinger. Diese mutige Frau, die in einer Zeit, als das noch ein Risiko war, neue Wege in der Womens Liberation beschritt, ist in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Anläßlich ihres Jubiläums wird im folgenden Abriß versucht, die Höhepunkte ihres Lebens zu beleuchten.
Die frühen Jahre 1908 – 1925
Paulette Gisette Paulinger kommt am 22. Januar 1908 als viertes Kind des staatlich bestallten Geistheilers Nepomuk Getty Paulinger und seiner Frau Emma, einer radikal-konstruktivistischen Traktoristin, in Wuppertal zur Welt.
Bereits mit drei Monaten besitzt Gisette zwölf Zähne und beginnt sich zaghaft für Bücher zu interessieren, auch wenn der Vater die von ihr benutzten Bände ständig nachkaufen muß.
In ihren Kindertagen trifft man die kleine Gisette oft in der Schwebebahn ihrer Heimatstadt an. Sie kann sich nicht sattsehen am regen Treiben in den Straßen und es bereitet ihr ein diebisches Vergnügen, immer wieder Wasserbomben auf den Melonen und Melonen auf den Wasserköpfen ahnungsloser Passanten platzen zu lassen.
Beim unvorsichtigen Experimentieren mit Brausepulver bekommt Gisette einen Schluckauf, der volle drei Tage anhält. Sie findet heraus, daß sie dem Leiden nur durch starkes Aufstoßen begegnen kann. Schon bald findet sie auch ohne Schluckauf sehr viel Gefallen am „Bäuerchen machen“. Eine Leidenschaft beginnt, die sie ihr Leben lang nicht mehr loslassen soll.
1914. Die unbeschwerten Kindertage sind vorbei. Der erste Weltkrieg bricht aus und die Familie emigriert nach Island. Das Mädchen braucht lange, um sich auf die Sitten der Ureinwohner einzustellen. Vor allem der Verzehr von sauer eingelegten Hammelhoden, Walspeck und schwarzgesengten Schafsköpfen, die traditionell zum Opferfest, dem Porrablót gereicht werden, bereiten ihr tagelange Übelkeit.
Auch wenn für warmes Wasser stets gesorgt ist, so ist das Leben auf der Insel für ein Kind mit Gisettes Phantasie wenig abwechslungsreich. Gelangweilt kleidet sie ihr Meerschweinchen in winzige Matrosenanzüge und zwingt es anläßlich des Kaiserbesuchs in Reykjavik stundenlang pfeifend neben den Pferden herzulaufen.
Um die Familie durch die harte Zeit zu bringen, verdingen sich die Eltern als Aufgießer in der Sauna. Von den Kräutern kocht die erfindungsreiche Mutter leckere Süppchen für die ganze Familie. Gisettes ältester Bruder, Hagen, spezialisiert sich auf die Zubereitung von Gammelrochen. Der Speisezettel wird abwechslungsreicher, wenn auch den ganzen Tag gelüftet werden muß. Sie sind arm, aber glücklich.
1919 zieht die Familie zurück nach Wuppertal. Und obwohl sie jetzt in einer umgebauten Bushaltestelle leben, die sie sich mit entnazifizierten Einradartisten teilen müssen, blüht Gisette zusehends auf und nach einem halben Jahr in der Heimat ist von ihrer Fischphobie nicht mehr viel zu spüren.
Mit elf Jahren beginnt Gisette ihre erste Oper zu komponieren, bricht aber enttäuscht ab, als der Vater ihr erklärt, daß man dazu auch Noten kennen müsse.
Aufgrund außergewöhnlich guter Schulleistungen, gepaart mit renitentem Verhalten, verläßt sie das Lyzeum mit einem „Ausgezeichnet“ in der Klicklautsprache. Gisette ist jetzt dreizehn Jahre alt.
Beeinflußt von den Werken Jules Vernes verbringt sie den Tag mit Träumereien von der großen Welt und dem systematischen Zerpflücken der väterlichen Schmetterlingssammlung. Ihr Berufswunsch: Entdeckerin. Um an Geld zu kommen, verkauft sie donnerstags auf den Wochenmarkt Münzen aus der römischen Sammlung des Großvaters.
1922, das Jahr in dem sie vierzehn wird, hat sie bereits ein kleines Vermögen beiseite geschafft. Dies ist auch das Jahr, in dem ihr geliebter Großvater – verwirrt, mißtrauisch und völlig verarmt – im Städtischen Spital von Wuppertal-Barmen das Zeitliche segnet.
Die Teenagerjahre verlaufen für Giselle ab jetzt weitgehend ereignislos. Nur bei der alljährlichen Pudelparade im Frühjahr 1924 verfängt sich der Bart eines Hundeführers in ihrer Korallenkette. Es kommt zu einer unkontrollierbaren Kettenreaktion, in deren Verlauf der Obere Stadtkämmerer von einem Pferd in den Rücken gebissen wird. Der anschließende Bürgeraufstand zwingt den Bürgermeister zum Rücktritt.
1925. Gisette ist jetzt siebzehn und zu einer Schönheit herangereift. Wuppertal wird ihr zu eng und sie verläßt mit einem Tambourmajor der Senegalesischen Königsgarde heimlich die Stadt.
Die folgenden drei Jahre liegen im Dunkeln. Wie Quellen aus dieser Zeit übereinstimmend berichten, gelingt es ihr, in New York City einen erfolgreichen Handel mit Fischschuppen aufzuziehen. Die Gebäude verteilen sich innerhalb weniger Jahre über die halbe Lower East Side.
Mit der neuen finanziellen Freiheit steht der P. nun die Welt offen. Sie packt ihre Koffer und reist mit der Mauleselkarawane des großen Houdini zurück nach Deutschland.
1930 besucht sie Dresden, um Gret Palucca tanzen zu sehen. Die beiden Avantgardistinnen freunden sich sofort an, auch wenn die P. später behauptet, Palucca „habe hinter ihrem Rücken immer geschielt und die Zunge herausgestreckt “.
Obwohl es der P. nicht gelingt, beide Füße gleichzeitig in der Luft zu halten, prophezeit ihr die Palucca „eine große Karriere, wenn sie nur endlich aufhören würde, mit einem angeklebten Bart herumzulaufen“.
Die Pariser Jahre 1936 – 1940
1936, Paris. Bewegung ist immer noch ihre Leidenschaft. Bei einem Tanzkurs lernt die P. den linkischen Fliederbaumverkäufer Emmanuel Rudnitzky kennen, der später von sich behaupten wird, sein richtiger Name sei Man Ray.
Die P. und Rudnitzky perfektionieren im Laufe ihrer Liaison Two Step und Foxtrott, leben sich aber nach einem hitzigen Streit über die Schrittfolge beim Walzer schnell auseinander. Dennoch bleiben sie Freunde, auch wenn sie nie wieder ein Wort miteinander wechseln werden.
1937. Bei einer Seance im Hause Gertrude Steins anläßlich der Aufnahme Salvador Dalis in den Kreis der Surrealisten lernt sie den Kreis um André Breton kennen.
Die Surrealisten stehen kurz vor ihrem großen Durchbruch und sind bereits so populär, daß es Mode geworden ist, während der Mittagspausen in den großen Fabriken das „Automatische Schreiben“ zu trainieren.
Während man um einen runden Tisch sitzt und den Geist Lautreamonts beschwört, flüstert der exzentrische Dali der wißbegierigen P. das Geheimnis seines prachtvollen Schnurrbarts zu.
Wörtlich überliefert sagt er: „Jeden Morgen Bienenwachs und katalanische Butter, Gnädigste, dann können Sie überall den dicken Maxen markieren.“
Schon ein Jahr später jagt der exzentrische Breton den nicht minder exaltierten Dali aus der Gruppe und verbittert und einsam beschließt die P., ihr Leben fortan dem Erforschen von bretonischem Humus zu widmen.
Doch Gertrude Stein findet Gefallen an der blutjungen Gisette und bittet sie, zu bleiben, um „mir diese verdammten Maler vom Leibe zu halten“.
Die Stein ist oft in Eile, weil sie für Alice B. Toklas ständig Polenta zubereiten muß. Nichtsdestotrotz ist Gertrude eine emanzipierte Frau. Oft murmelt sie tagelang vor sich hin: „Meine Hose, wo ist bloß meine Hose, diese gottverdammte Hose!“
Dazu kichert sie und imitiert den Gang ihres Freundes Charlie Chaplin, den der sich wiederum bei Franklin D. Roosevelt abgeschaut hat.
Gertrude, Alice und die P. lachen und singen den ganzen Tag, wenn die P. auch oft nicht weiß, warum.
Manchmal bricht Gertrude unvermittelt in Tränen aus und schickt die beiden Frauen auf die Straße, „um arrogante Buttercroissants zu herzen“.
Eines Morgens steht Max Ernst mit einer Tüte gerösteter Gekkos vor der Tür und fragt die P. ob sie ihn in die Folies begleiten möchte, wo am Abend Paul Eluard auftreten wird, um ein brennendes Klavier zu verspeisen.
Eine leidenschaftliche Beziehung beginnt, auch wenn sie schon am nächsten Tag gegen Mittag beendet sein wird.
Die P. bezeichnet die Zeit mit dem Maler als „die schönste Zeit meines Lebens, obwohl ich immer über seine komische Krawatte lachen mußte.“,
Paris, Stadt der Liebe. Die P. lernt hier alles, was nicht im Kamasutra steht. Gala Dali unterweist sie in Liebestechniken die bei den Modernen en vogue sind.
Es ist die Zeit, in der die P. nie weniger als zwei oder drei feste Liebhaber hat und dazu unzählige amouröse Abenteuer genießt.
Erstaunt hört sie zu, als Picassos Zahnarzt ihr berichtet, daß man Geschlechtsverkehr auch vaginal haben kann.
Der Zweite Weltkrieg
1940. Als die Deutsche Wehrmacht Paris besetzt, schließt die P. ihr Theater für modernen Ausdruckstanz. Sie verkauft alle Requisiten und Kostüme mit Verlust an die Resistance, die damit später in den Wäldern um Paris mit bizarren Travestieshows große Erfolge feiern wird.
Die P. behauptet, daß ihr Fundus nicht unwesentlich zum Sieg über die verhaßten „Hitlers“ beigetragen habe.
Ein letztes Mal bäumt sie sich gegen ihre verhaßten Landsleute auf und beschließt, sich von einem durchreisenden Bondagekünstler deflorieren zu lassen. Während des Höhepunktes überreicht ihr der Concierge ein Telegramm aus Deutschland, in dem steht, daß ihr Goldfisch im Sterben liege. Überstürzt reist sie ab.
Lesen Sie demnächst Teil II: Von Key West nach Chartwell. Zigarren, Krieg und kalte Fische.
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