Murmelstimmung.
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„Mutti, Mutti!“ die kleine Gertraud hatte wieder Murmeln im Ohr. Ihre kürzlich erst zur Frau operierte Mutter stürzte herein und verfing sich mit dem Kinn an der Türklinke. Der Bart war noch nicht ganz ausgewachsen, ihre Hormontherapie hatte erst begonnen. Aber kein Problem, damit kam Mutti auch auf Arbeit zurecht. Mit geübten Griffen drückte sie ihrer Tochter eine Packung Butter ins Ohr und Flutsch! waren die Schlingel auch schon draußen. Papi ruft fast besorgt: „Wattn da schon wieder los? Hat dat Balg wieder die Scheißmurmeln verschluckt?“ Er konnte gerade nicht, er musste Stifte anspitzen und der Länge nach sortieren. Eine Aufgabe, die Papi mit voller Hingabe und einer Tasse Earl Grey jeden Sonntagabend zelebrierte. Zum Glück. Früher saß er oft wochenlang in seinem Zimmer und kämmte sich die Wimpern. Lag auch nur ein Haar falsch, tobte er und kritzelte eine neue Primzahl in sein Heft. Papi war sich sicher, dass es einmal ein Vermögen wert sein würde, wenn er nur genügend Zahlen gefunden hätte. Reiner Irrsinn, wie ihm eine Wahrsagerin Jahre später an den Kopf werfen sollte. Natürlich nicht, ohne ihm vorher noch eine saftige Rechnung ohne Mehrwertsteuer auszustellen – das zuständige Finanzamt unterstellte ihr eine umsatzschwache Unternehmung.
Bis dahin waren es aber noch ein paar Jährchen, und Papi entdeckte beim Schlendern auf dem Wochenmarkt den Schlüssel für seine Leidenschaft: Pomade. Handgemacht. Ein Bauer aus der Gegend fuhr sich so oft durchs fettige Haar bis er eine klebrige Paste in den Händen hielt. Diese schmierte er in kleine Becher, fuhr in die Stadt und bot sie auf den Märkten feil. Moderne Drogerien waren in diesem Landstrich per Gesetz verboten, daher der Hang und Zwang zum Selbermachen. Als Papi den ersten Versuch unternahm, sich zu „steilen“ wie er meinte, saß die ganze Familie um ihn im Kreis und hielt die Luft an. Papi wollte es so. Das ständige Atmen ging ihm sonst schon gehörig auf die Nerven, da musste es nicht auch jetzt noch sein. Der Augenblick war zu bedeutend. Er setzte den beschmierten Finger an, zielte und – leckte ihn ab. Mutter und Tochter bekamen große Augen, der Sauerstoff wurde knapp. Papi gab später unter Tränen zu, er habe nie seine Wimpern formen wollen, nur der süße Duft der Creme war für den Kauf verantwortlich. Und überhaupt, diese ganze Kämmerei musste endlich ein Ende haben, das schwor er bei diesem Stift, mit dem er gerade zwischen den Zehen spielte. So war seine neue Sonntagsbeschäftigung gefunden: Stifte. Hätte Papi es erlaubt, hätten alle erleichtert durchgeatmet, aber er vergaß es glatt, denn es war fünf Uhr durch – Teezeit. Er flitzte in die Küche, kochte Wasser auf und verspritzte ein paar heiße Tropfen auf den nackten großen Zeh. Er schrie um Hilfe. Nichts geschah. Er schrie, es dürfe wieder geatmet werden und dann noch einmal um Hilfe. Zwei Minuten später verband ihm seine Frau den Fuß und die Tochter reichte ihm Earl Grey.
Diesmal musste Muttern ran: An die Tochter. Und ihre Murmeln, die immer noch butterverschmiert auf dem Teppich hinter die Schrankwand kullerten. Sie beruhigte Papi: „Is jut Vattern, allet is jut“. Er saß vor seinen Stiften im angrenzenden Zimmer, den er ehrfürchtig „Schick-Saal“ zu nennen pflegte. Jedenfalls wenn sein Tee mal wieder einen Schuss zu viel abbekam. Gertraud stellte sich bockig – ihrer Mutter beim Suchen helfen? Die spinnt wohl! Gertraud war ein sehr wunderliches Kind, ihre Eltern machten sich manchmal große Sorgen um ihre Zukunft. Aber das hatten sich die Eltern selbst eingebrockt. Oder besser Mutti, die bis vor zwei Wochen noch ein Mann war.
Diese Sache mit der tiefen Stimme und der ewige Durst auf Bier lagen Mutti einfach nicht. Dabei war genau das damals der Grund gewesen, sich das erste Mal ihr Geschlecht ändern zu lassen: Noch mit zarten zwanzig wurde sie von allen immer nur „Prinzeschjen“ genannt, in Rosa Tüll gestülpt und bis zur totalen Unkenntlichkeit geschminkt. Sie hasste es. Sie wollte ordinär sein, sie wollte schmutzige Fingernägel und sie wollte Schlüpfer mit Eingriff. Sie wollte endlich ein Mann sein. Und so geschah es. Sie wurde zum Er. Er rülpste und trug schmutzige Feinrippunterwäsche. Das ging auch fünfzehn Jahre gut, bis sie plötzlich den Vater ihrer zukünftigen Tochter traf. Ein prächtiger Mann, mit Schal und Kapuze, wer konnte da widerstehen? Die Entscheidung war schnell gefallen. Und die Ärzte hatten Glück: Bei der ersten OP war so einiges vergessen worden, das sparte nun eine Menge Zeit. Offiziell wurde natürlich geschnippelt und genäht, aber eigentlich nutzten die Chirurgen die gewonnen Stunden um sich endlich mal neu einzurichten, das Auto zu putzen und ausgeliehene Filme zur Videothek zurück zu bringen. Anschließend waren beide Mann und Frau. Sie waren so glücklich, dass sie sich sogar Namen geben wollten, jeder einen, so närrisch vor Glück waren sie in dieser Zeit. Doch welchen nehmen? Es gab so viele! Einige ihrer Freunde hatten sogar denselben! Wie sollten sie sich da ihre Eigenständigkeit bewahren? „Das wird eine heikle Angelegenheit“, sagte Papi – damals eigentlich noch gar keiner, aber er fand, das klang so gut. Sie vertagten die Namenssuche auf später, irgendwann zwischen eiserner und Gnadenhochzeit würde sich schon ein passender Moment finden.
Und dann kam Gertraud – bei ihr machten sie eine Ausnahme, da alle möglichen Behörden einen Namen verlangten. Und warum unnötig Probleme schaffen? Im Kreise der Familie hieß sie aber bis zum Tod der Eltern „Balg“. Mutti war außerdem der Meinung, Gertraud müsse von Anfang an mit der Härte des Lebens konfrontiert werden und Reale-Welt-Kenntnis erwerben. „Reale-Welt-Kenntnis“ – das betete sie ihr jeden Abend nach der Gute-Nacht-Geschichte vor. Mutti hatte mal begonnen, BWL zu studieren und in der ersten Vorlesung flog sie aus dem Saal, als sie das Beispiel „Praktikum bei Aldi oder wie?“ einbrachte. Seitdem hat sie begriffen, wie wichtig Floskeln für den Erfolg in einer Leistungsgesellschaft sind – besonders für Gertraud. Mutti wollte für sie nur das Beste: Die besten Socken – sie häkelte die ganze Kleidung selbst, das beste Essen – sie mietete ein Grundstück um allein in klassischer Drei-Felder-Wirtschaft ihren Bedarf an Lebensmitteln zu decken und die beste Musik – sie verabscheute diesen bunten Quietschmist aus dem Radio. In einem Studio spielte sie alle großen Opern ein und ihrer Tochter vor. Um es etwas aufzupeppen, nahm sie eine Posaune und hupte hin und wieder in die Melodie. Gertraud war anspruchsloser als erhofft. Sie wollte nur murmeln. Von morgens bis abends immer nur murmeln. Draußen, drinnen, Tag und Nacht – Gertraud schob nur kleine Kugeln durch die Gegend. Und wenn niemand hinsah auch mal eine ins Ohr. Oder den Mund. Dann war immer Stimmung in der Bude, das mochte sie. Murmelstimmung.
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